"*innen"? (war: Übersetzung KDE ECO Blog Opt Green)
Joseph P. De Veaugh-Geiss
joseph at kde.org
Wed Jul 10 12:04:45 BST 2024
Hallo Johannes, hallo alle,
> Wollen wir "*innen" in unseren Übersetzungen?
> Ja
> Nein
> Vielleicht (aber doch lieber anders)
Meine allgemeine Antwort auf die Frage: Ich bin für Ja. Siehe unten für
die Begründung.
Bezüglich des Blogposts und der Texte von Opt Green, siehe meine Antwort
hier: https://mail.kde.org/pipermail/kde-i18n-de/2024-June/016260.html
> 1. Es gibt ein generisches Maskulin (Genus).
Zum generischen Maskulinum: Die Idee ist, dass Satz (1) identisch mit
der geschlechtsneutralen Version in (2) ist.
(1) Es gibt zu wenige Freie Software-Entwickler.
(2) Es gibt zu wenige Menschen, die Freie Software entwickeln.
Aber das ist nicht die ganze Geschichte. (1) ist zweideutig. Vergleiche
(3a) mit (3b) im Kontext.
(3a) Es gibt zu wenige Freie Software-Entwickler. Die meisten
entwickeln proprietäre Software.
== geschlechtsneutrale Bedeutung: Es gibt zu wenige Menschen,
die Freie Software entwickeln. [...]
(3b) Es gibt zu wenige Freie Software-Entwickler. Die meisten
sind Entwicklerinnen.
== geschlechtsspezifische Bedeutung: Es gibt zu wenige Männer,
die Freie Software entwickeln. [...]
Im Gegensatz dazu ist /Mensch/ in (2) wirklich neutral. Das zeigt sich
an dem Widerspruch im zweiten Satz in (4). In (4) bekommst du die
geschlechtsspezifische Bedeutung nicht.
(4) Es gibt zu wenige Menschen, die Freie Software entwickeln.
#Die meisten sind Entwicklerinnen.
== geschlechtsneutrale Bedeutung: Es gibt zu wenige Männer und
Frauen, die Freie Software entwickeln. [...]
Nur zur Erinnerung: Genus != semantisches Geschlecht. Z.B.
https://de.wikipedia.org/wiki/Genus#Genus_und_Sexus_im_Deutschen
> 4. Ich bin grds. gegen Verkomplizierung der Sprache beim Lesen und Schreiben (weniger erhöht den Lesefluss [Kontext basiertes Lesen]).
Ich stimme zu, aber für mich ist der Wunsch nach klarer, eindeutiger und
inklusiver Kommunikation auch sehr wichtig. Außerdem ist es nicht
einfach, "Komplexität" zu definieren. Auch mehrdeutige Ausdrücke sind
komplex.
Das "generische Maskulinum" ist zweideutig und es gibt zahlreiche Belege
dafür, dass Geschlechterstereotypen beeinflussen, wie wir mehrdeutige
Sprache interpretieren. Vergleiche (5a) mit (5b):
(5a) Es gibt zu wenige Freie Software-Entwickler. Die meisten
sind Entwicklerinnen.
(5b) Es gibt zu wenige Lehrer. Die meisten sind Lehrerinnen.
Der Satz in (5b) ist vielleicht leichter als (5a) zu lesen. Der Einfluss
von Geschlechterstereotypen auf die Interpretation von mehrdeutigen
Phrasen/Sätzen ist in der Linguistik auf vielfältige Weise untersucht
worden, von statistischen Textanalysen über Messungen der Lesezeiten bis
hin zu Sprachverständnis- und Produktionsaufgaben.
Eine wirklich geschlechtsneutrale Form wie "Menschen, die..." ist
eindeutig, aber komplizierter. Die Form *innen löst diesen Konflikt bis
zu einem gewissen Grad auf und ist eindeutig in der Bedeutung. In
(6a)-(6b) kannst du zum Beispiel sehen, dass die Interpretation mit
geschlechtsneutralen Nomina wie /Mensch/ identisch ist.
(6a) Es gibt zu wenige Menschen, die Freie Software entwickeln.
#Die meisten sind Entwicklerinnen.
(6b) Es gibt zu wenige Freie Software-Entwickler*innen. #Die
meisten sind Entwicklerinnen.
-> Die neutrale Bedeutung in den ersten Sätzen steht im
Widerspruch zum zweiten Satz. (Semantische Merkwürdigkeit wird in der
Semantik mit dem Rautensymbol # gekennzeichnet.)
Vgl. (7a)-(7b):
(7a) Es gibt zu wenige Menschen, die Freie Software entwickeln.
Die meisten entwickeln proprietäre Software.
(7b) Es gibt zu wenige Freie Software-Entwickler*innen. Die
meisten entwickeln proprietäre Software.
-> Die neutrale Bedeutung in den ersten Sätzen steht nicht im
Widerspruch zum zweiten Satz.
> 2. Meine 15 Mitarbeiterinnen und viele andere mir bekannte Frauen meinen, dass sie sich durch diesen "Gender-Wahnsinn" (o-Ton) eher zur Schau gestellt als ernst genommen fühlen.
Meine Erfahrung ist genau das Gegenteil. Die meisten Frauen, die ich
kenne, fühlen sich durch das Maskulinum (z. B. bei /Entwickler/) nicht
repräsentiert. Einige finden (8a) problematisch; vgl. (8b).
(8a) Peter (m) ist ein Freie Software Entwickler. ?Maria (w) auch.
(8b) Peter (m) ist ein toller Mensch. Maria (w) auch.
Das Thema ist aber auch politisiert, und es gibt noch andere
(soziolinguistische) Ebenen in der Diskussion, die die Meinungen und
Erfahrungen der Menschen sicherlich beeinflussen.
> 3. Ich berücksichtige bei Entscheidungen gerne die Fachexpertise meiner Mitarbeiter (Genus, wie aus oben leicht erkennbar [Kontext]).
Ich habe einen Doktortitel in theoretischer Linguistik (mit Schwerpunkt
Semantik/Pragmatik) von der Universität Potsdam. Ich hoffe aber, dass
die Argumente auch ohne ein Argument von Autorität überzeugend sind.
> 5. Das Gender-Sternchen (nicht das Gendern per se) wurde in Bayern verboten.
Ja, das ist mir bekannt. Dies steht auch in direktem Widerspruch zu den
UBA-Verordnungen.
> 6. Diverse könnten sich gerade durch Nennung der männlichen und weiblichen Form weiterhin und ggf. noch mehr ausgeschlossen fühlen.
So wie ich das verstehe, ist das Sternchen als Genderzeichen genau für
Diverse.
> Ich lass mich aber auch gern von anderen Meinungen überzeugen!
Danke, dass du das Gespräch auf eine respektvolle und unterhaltsame
Weise eröffnet hast.
Bitte entschuldige meine möglichen Fehler. Ich bin immer noch kein
Muttersprachler :)
Beste Grüße
Joseph
--
Joseph P. De Veaugh-Geiss (he/him)
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